top of page
  • Writer's pictureDorthe Jørgensen

Was ist Religionsästhetik?

Updated: Apr 26, 2020

Beitrag zur Konferenz “Der Kanon und die Sinne – Religionsästhetik als akademische Disziplin,” Institut für Religionswissenschaft, Freie Universität Berlin, 21. Juni, 2001


Einleitung

Zuerst möchte ich mich herzlich für die Einladung zur Teilnahme an dieser Konferenz über Religionsästhetik bedanken. Gemäß dem Thema der Konferenz ist es meine Absicht, eine Antwort auf die Frage zu finden, was wir unter Religionsästhetik als akademischer Disziplin verstehen sollen. Ich möchte keinen Vorschlag für Religionsästhetik als religionswissenschaftlicher, sondern als religionsphilosophischer Disziplin machen. Zugleich hoffe ich aber zeigen zu können, dass philosophisches Denken zur begrifflichen Entwicklung der religionswissenschaftlichen Beschäftigung mit Ästhetik beitragen kann.[1]


Philosophische Ästhetik

Die erste Frage, die sich meldet, wenn wir den Begriff Religionsästhetik definieren sollen, ist die Frage, was Ästhetik überhaupt ist. Was ist Ästhetik und wie verhält sich Religionsästhetik zu sonstiger Ästhetik? Fachästhetiker wie zum Beispiel Kunsthistoriker und Personen mit Hintergrund in sogenannter analytischer Philosophie werden Ästhetik vermutlich mit Kunsttheorie gleichsetzen. Wenn man seinen Hintergrund dagegen in kontinentaler Philosophie hat, ist es wahrscheinlicher, dass man Kunstphilosophie als Definition der Ästhetik betrachtet. Aber die meisten dürften sich doch darüber einig sein, dass es so etwas wie philosophische Ästhetik gibt, und dass diese von Alexander Gottlieb Baumgarten begründet wurde.

Was war indessen Ästhetik für Baumgarten selbst? War sie identisch mit Kunsttheorie oder mit Kunstphilosophie, oder ging es um etwas ganz anderes? Baumgarten war Rationalist, aber er hatte einen Blick für die Begrenzungen der reinen Erkenntnis. Man kann nicht sagen, dass Baumgarten die ästhetische Erfahrung geradezu entdeckte; diese Ehre kommt eher Basilius der Große zu. Auch wäre die Behauptung falsch, dass Baumgarten es war, der die Reflexivität der ästhetischen Erfahrung erkannte, denn dies tat tatsächlich bereits Augustinus. Aber Baumgarten war der erste, der die ästhetische Erfahrung zum Gegenstand einer systematischen philosophischen Untersuchung machte, womit er die philosophische Ästhetik begründete.

Baumgarten zufolge ist ästhetische Erfahrung von reiner Erkenntnis verschieden, weil sie nicht begrifflich ist. Die ästhetische Erfahrung ist aber nicht irrational oder willkürlich, da sie ihre eigene Form von Rationalität hat. Daher beinhaltet die ästhetische Erfahrung auch ein Moment der Erkenntnis. Nach Baumgarten bietet die ästhetische Erfahrung die Möglichkeit, die Welt auf andere Weise als die reine Erkenntnis zu erkennen, und daher muss man die reine Erkenntnis durch ästhetische Erfahrung ergänzen, wenn man die Welt in ihrer metaphysischen Gesamtheit erkennen will. Aus demselben Grund wollte Baumgarten eine Erkenntnislehre für die ästhetische Erfahrung entwickeln und es war diese Lehre, die er Ästhetik nannte. Für Baumgarten war Ästhetik also weder mit Kunsttheorie noch mit Kunstphilosophie identisch. Er betrachtete die Ästhetik vielmehr als philosophische Disziplin zur Erforschung der ästhetischen Erfahrung, die als Form wahrer Erkenntnis verstanden wurde. Die Ästhetik sollte die neue Erkenntnistheorie sein.


Die Erfahrung von Göttlichkeit

Obwohl Baumgarten immer noch als der Begründer der philosophischen Ästhetik erinnert wird, haben doch nicht seine, sondern Friedrich Schillers Gedanken die Grundlage für die moderne Ästhetik gebildet. Daher wurde die philosophische Ästhetik nie als das realisiert, als was sie ursprünglich begründet wurde, nämlich als Erkenntnistheorie der ästhetischen Erfahrung. Es ist aber die Frage, ob eine solche Realisierung heute möglich ist. Können wir die Ästhetik als neue Erkenntnistheorie realisieren, und was wäre dafür gegebenenfalls erforderlich? Als eines der ersten Dinge würde dies voraussetzen, dass die Geschichte der Ästhetik umgeschrieben wird. Sonst wäre es weiterhin schwer zu erkennen, dass es bei der modernen Ästhetik nicht um Erkenntnis, sondern um Ethik und Politik ging.

In dem Buch Skønhedens metamorfose (Die Metamorphose der Schönheit) habe ich gerade eine solche Revision der Geschichte der ästhetischen Ideen unternommen. Das Buch wurde auf Grundlage der These geschrieben, dass Kunst und Ästhetik der Erfahrung von Göttlichkeit entspringen, dass aber diese Erfahrung in den historischen Auffassungen der Schönheit unterschiedlich interpretiert wurde. So ist es möglich, die Geschichte der Interpretation der Erfahrung von Göttlichkeit in der historischen Metamorphose der Schönheit zu deuten. Das Buch Skønhedens metamorfose ist daher nicht nur eine Geschichte der Veränderung der Schönheit vom Altertum bis in die Moderne. Es ist auch ein Bericht über die Entwicklung der Erfahrung von Göttlichkeit von der magischen Erfahrung der Höhlenmaler bis zur Erfahrung immanenter Transzendenz des modernen Menschen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang hervorheben, dass ich das Wort “Göttlichkeit” nicht als Synonym für das Göttliche oder Gott verwende und dass ich die Erfahrung von Göttlichkeit nicht so betrachte, dass sie die Präsenz des Göttlichen oder Gottes zum Gegenstand hat. Nach meiner Definition des Begriffs hat die Erfahrung von Göttlichkeit eigentlich keinen Gegenstand; die Erfahrung von Göttlichkeit ist nicht die Erfahrung von “etwas” mit göttlichem Charakter. Die erfahrene Göttlichkeit existiert nur als eine göttlichkeitsoffenbarende Dimension der magischen, mystischen, metaphysischen, religiösen oder ästhetischen Erfahrungen. Diese universelle Dimension von Göttlichkeit wurde innerhalb der Ästhetik als “schöner Schein” oder “das Erhabene” bezeichnet. Dank dieser Dimension ist es auch eine Art, die Geschichte der Erfahrung von Göttlichkeit zu schildern, wenn man die Geschichte von Kunst und Ästhetik erzählt.


Die Form, das Licht und das Symbol

Allerdings war die Art von Ästhetik, die von der Kunst des Lebens oder der ästhetischen Formung des Daseins handelt, lange die beliebteste Form von Ästhetik. Die große Beliebtheit der lebenskunstorientierten Ästhetik geht nicht zuletzt auf Michel Foucault und Friedrich Nietzsche zurück, aber sie entstand bereits im 18. Jahrhundert. Seit damals hat die Ästhetik nämlich nicht nur dem Kunstschönen gegenüber dem Naturschönen den höheren Wert beigemessen. Sie war auch geneigt, Kunst und Ästhetik so zu betrachten, dass ihr Zweck darin bestand, der Befreiung des Menschen zu dienen. Die Frage der Erkenntnis wurde daher lange zugunsten ethischer und politischer Fragen klein gehalten.

Historisch ist es jedoch keine Selbstverständlichkeit, dass Ästhetik nur Theorie der Kunst ist oder dass sie mit der Philosophie des Geschmacks, der Lebenskunst oder der ästhetischen Erziehung identisch ist. In der Geschichte der ästhetischen Ideen hat die Metaphysik der Schönheit die größte Tradition und sie wurde ursprünglich auf dem Hintergrund von Anregungen durch Homer und Pythagoras geschaffen. Die alten Dichter und Kosmologen waren aber nicht ethisch, sondern religiös eingestellt: Ihre Gedanken über Inspiration und Harmonie waren Ausdruck für die Erfahrung von Göttlichkeit. Die Metaphysik der Schönheit ist daher von dem Glauben daran geprägt, dass die Schönheit in der Welt eine Möglichkeit für wahre Erkenntnis darstellt, die von einem göttlichkeitsoffenbarenden Charakter ist. Sie ist der Schlüssel zu einer Form des Denkens, das gegenüber Kräften offen ist, die größer sind als der Mensch selbst. Seit im 18. Jahrhundert der Mensch und seine Moral ins Zentrum rückten, hatte diese Art des Denkens aber schwierige Bedingungen. Daher ist die Frage, ob wir der Tradition der Metaphysik der Schönheit neues Leben geben können, und was dafür gegebenenfalls erforderlich wäre.

Eine Aktualisierung der Schönheit würde voraussetzen, dass die ästhetische Erfahrung mehr ins Zentrum rückt, als es lange der Fall war. Historisch hat die ästhetische Erfahrung sich besonders als Formerfahrung und Lichterfahrung manifestiert. Beide Erfahrungen wurden als Erfahrungen von Schönheit aufgefasst, weshalb sie die Grundlage für eine Formästhetik und eine Lichtästhetik bildeten. Die Formästhetik entstand, als die griechischen Künstler die pythagoreische Erfahrung von kosmischer Harmonie in der Symmetrie der klassischen Bauten, Skulpturen und Malereien spiegelten. Diese auf Symmetrie basierende mimetische Ästhetik regierte in der Antike und in den Zeiten, in denen man später versuchte, die klassische Kunst wiederzubeleben, wie z.B. in der Zeit der Karolinger, in der italienischen Renaissance und im französischen Klassizismus des 17. Jahrhunderts. Die Lichtästhetik hingegen wurde erst von Plotin formuliert, aber sie wurde im Mittelalter ganz zentral, wo sich das himmlische Licht in den byzantinischen Ikonen als Goldflächen ausbreitete. Später entdeckten die venezianischen Künstler das natürliche Licht und im 20. Jahrhundert entstand eine selbständige Lichtkunst, die zum Beispiel aus Holographie und Laserkunst besteht.

Das Mittelalter beerbte allerdings nicht nur die klassische Formästhetik und die Lichtästhetik Plotins, sondern auch die Symbolästhetik des Alten Testaments. Die christliche Ästhetik kann direkt als ein einziger großer Versuch betrachtet werden, die klassische Harmonie der Form mit der orientalischen Dynamik des Symbols zu versöhnen. Diese Bestrebung, ästhetische Schönheit mit symbolischer Bedeutung zu verbinden, fand in dem Umstand Unterstützung, dass die Griechen trotz allem nicht nur den Blick für die Form, sondern auch für das Licht hatten und dass die Juden nicht nur ein Bilderverbot formulierten, sondern auch Freude am Material und seiner latenten Symbolik demonstrierten. Die Symbolästhetik führte die Allperspektive mit sich, die ebenfalls aus den byzantinischen Ikonen hervorgeht. Diese Bilder wollen Christus gerade nicht naturalistisch darstellen, sondern auf das göttliche Licht hinweisen, weshalb sie in einem Bild mehrere Welten zusammenfalten.


Blossom Tree, Seville, May 2007. Private photo, © Dorthe Jørgensen
Andalusian Blossom Tree. Photo by Dorthe Jørgensen

Die Erfahrung der Aura

Die Kunst des 20. Jahrhunderts hat die klassische Formästhetik zurückgewiesen, um stattdessen das licht- und symbolästhetische Erbe des Mittelalters neu zu interpretieren. Diese Entwicklung hatte sowohl eine Formmystik als auch eine Dingmagie zum Ergebnis. Der mystische Expressionismus Wassily Kandinskys ist somit Ausdruck für moderne Formmystik und Marcel Duchamps object trouvé oder der Surrealismus Salvador Dalís repräsentieren die moderne Dingmagie. Mit dieser Formmystik und Dingmagie zeigt die Kunst, dass es möglich ist, modern zu sein, ohne auf die Erfahrung von Göttlichkeit zu verzichten. Aber die Philosophie kann tatsächlich dasselbe erzählen. Zum Beispiel liefert Walter Benjamin mit seinen Schriften eine Möglichkeit für eine moderne Philosophie, die Magie und Mystik nicht nur preist, sondern sogar selbst Züge davon beinhaltet.

Nach Benjamin umgab die traditionelle Kunst eine Aura, die aber mit dem Aufkommen der technischen Reproduktionsmittel verloren ging. Benjamin unterstützt den avantgardistischen Versuch, die Institution Kunst zu zerstören, weshalb er den modernen Verlust der Aura nicht beklagt. Zugleich ist Benjamins Kritik der Moderne aber in einem quasi-religiösen Impuls fundiert, weshalb sie keinen Verzicht auf jede Form von Aura beinhaltet. In dem Essay “Kleine Geschichte der Photographie” unterscheidet er so implizit zwischen einer kultischen Aura, die mit dem schönen Schein der traditionellen Kunst synonym ist, und einer profanen Aura, die eher einen erhabenen Charakter hat. Der moderne Auraverfall trifft nicht die Aura als solche, sondern nur die traditionelle, kultische Aura, und diese Aura wurde bereits durch die neue, profane Aura ersetzt. Darüber hinaus impliziert das Profane der neuen Aura nicht, dass sie von Göttlichkeit frei wäre; es bedeutet hingegen nur, dass sie von Institutionen wie Kirche, Kunst und König frei ist.

Der Begriff “profane Aura” fängt das “Mehr”, die Mehrbedeutung, ein, die in moderner Kunst spürbar ist. Er bezeichnet die moderne Form der Schönheit, die die klassische Form der Schönheit abgelöst hat. Denn obgleich die moderne Kunst die Schönheit problematisiert hat und die Kritik einen Verlust von Schönheit zur Folge hatte, vermittelt die Kunst dank ihrer Formmystik und Dingmagie immer noch eine Form von Schönheit. Mit dieser neuen Schönheit demonstriert die Kunst einen Sinn von “benjaminschem” Charakter für den Umstand, dass es in der Welt, die die unsere ist, ein “Mehr”, eine profane Aura, gibt. Sie zeigt, dass die Schönheit für den modernen Menschen eine Erfahrungsmöglichkeit ausmacht, die nicht einem ästhetischen Umgang mit der Kunst vorbehalten ist.


Metaphysik der Erfahrung

Wenn sich die Ästhetik endlich als das entfalten soll, als was sie von Baumgarten begründet wurde, muss dies natürlich gemäß modernen Prämissen geschehen. Die Philosophie muss ihren Ausgangspunkt in der Erkenntnis der modernen Kunst nehmen, dass weder die Kunst noch der ästhetische Umgang mit der Welt ein Patent auf die Ästhetik haben. Sie muss den Umstand reflektieren, dass die sogenannte ästhetische Erfahrung des modernen Menschen von übersinnlicher Mehrbedeutung mit den Erfahrungen von Magie und Mystik früherer Zeiten verwandt ist. Wenn aber die Philosophie dies ernst nimmt, wird die Ästhetik zu Erfahrungsmetaphysik werden und diese neue Metaphysik wird Religionsästhetik beinhalten.

Was aber ist Metaphysik der Erfahrung und was hat sie mit Religionsästhetik zu tun? Benjamin unterschied zwischen klassischer und moderner Metaphysik, denn er betrachtete die erstere dergestalt, dass sie in reiner Erkenntnis fundiert war und die letztere als in Erfahrung verankert. Benjamin wollte eine neue Metaphysik formulieren, die ihren Ausgangspunkt in einer sogenannten “höheren” Erfahrung von magisch-mystischem Charakter hatte. Dies Ziel verfolgte er jedoch nie systematisch. Es ist aber die Frage, ob das Projekt es nicht wert ist, wieder aufgenommen zu werden. Ich betrachte es jedenfalls als meine Aufgabe, zur Entwicklung einer neuen Metaphysik beizutragen, die weder auf positive spekulative Postulate über die Beschaffenheit der Welt und des Subjekts baut noch auf ebenso spekulative negative Postulate, dass es nur Begehren und kein Subjekt gebe. Die Aufgabe besteht darin, eine Philosophie zu schaffen, die die Phänomenologie unserer faktischen Erlebnisse und Erfahrungen nicht links liegen lässt, die aber auch nicht unser metaphysisches Bedürfnis nach Ontologie übersieht.

Die Metaphysik der Erfahrung, in der dies resultiert, hat unter anderem zur Aufgabe, die Verbindung zwischen Schönheit und Göttlichkeit zu erforschen und diese Verbindung in ihren historischen Erscheinungsformen zu analysieren, hierunter auch die profane Aura im Modernen. Die Metaphysik der Erfahrung legt dadurch die Schönheit der modernen Welt als ein “Mehr” aus, das mit Transzendenzerfahrungen früherer Zeiten verwandt ist. In einer solchen Auslegung zeigt sich die Aura als Ausdruck einer Erfahrung von Göttlichkeit, und dies gilt auch für die moderne Form der Aura. Der moderne Mensch begreift seine Erfahrung von Göttlichkeit jedoch nicht als religiöse Erfahrung, die Anspruch auf eine dogmatische Auslegung hat. Die Göttlichkeit ist hier durch eine moderne Form von Schönheit vermittelt, weshalb sie als Erfahrung immanenter Transzendenz erlebt wird.


Religionsästhetik

Obgleich nach Baumgarten philosophische Ästhetik weder mit Kunsttheorie noch mit Kunstphilosophie identisch ist, beschäftigt sich die Ästhetik stark mit der Kunst. Das macht sie wohlgemerkt nicht nur, wenn sie die Form von Kunsttheorie oder Kunstphilosophie annimmt, sondern auch ganz einfach, weil das Kunstwerk ein wesentlicher Vermittler ästhetischer Erfahrung ist. Entsprechend spielt die religiöse Kunst für die Religionsästhetik aus dem Grund eine wichtige Rolle, dass zum Beispiel Kirchenkunst historisch gesehen ein unumgängliches Medium für religiöse Erfahrung ist. So wie philosophische Ästhetik nicht nur von der schönen Kunst handelt, kann das Wirkungsfeld der Religionsästhetik sich auch nicht nur auf den Kult und seine Gegenstände begrenzen. Letztlich muss sowohl für die Religionsästhetik als auch für die philosophische Ästhetik die Erfahrung von Göttlichkeit der zentrale Gegenstand der Reflexion sein.

Dieser Erfahrung von Göttlichkeit sind Philosophie und Theologie vermutlich mit ihrem Begriff der mystischen Erfahrung am nächsten gekommen. Im Allgemeinen hat die Mystik allerdings darauf abgezielt, über das Konkrete und Sinnliche hinauszugelangen, wohingegen die Ästhetik oft das Entgegengesetzte wollte. Mystik und Ästhetik streben mit anderen Worten in ihre je eigene Richtung: Während die Mystik zum Transzendenten will, hält die Ästhetik am Immanenten fest. Gerade diesen Gegensatz zwischen (geistiger) Mystik und (sinnlicher) Ästhetik kann die Religionsästhetik aber durchbrechen. Denn während die traditionelle Mystik den Sinnen entsagt, lässt die Religionsästhetik den Weg zur Transzendenz durch die absolute Immanenz laufen. Bestenfalls hebt die Religionsästhetik den Gegensatz zwischen geistiger Mystik und sinnlicher Ästhetik auf, indem sie sich auf das Geistige im Sinnlichen richtet, ohne die Sinnlichkeit hinter sich zu lassen. In dem Fall behandelt sie die Form, das Licht und das Symbol als Medien für die Erfahrung von Göttlichkeit und sie interpretiert diese Erfahrung als ästhetisch vermittelte religiöse Erfahrung, die aus dem Erlebnis der Schönheit des jeweiligen Mediums entspringt. Damit korrespondiert die Religionsästhetik zugleich mit der modernen Art, Göttlichkeit zu erfahren, nämlich als immanente Transzendenz. Denn diese Erfahrung ist zugleich mystisch und magisch. Sie holt die Magie in das Universum der Mystik hinein.


Abschluss

Ich habe diesen Konferenzbeitrag mit der philosophischen Frage eingeleitet, was Ästhetik überhaupt ist. Dies führte unmittelbar zu der Frage, was Ästhetik für Baumgarten war, der die philosophische Ästhetik begründete. Ich zeigte, dass Baumgarten Ästhetik nicht als Kunsttheorie oder Kunstphilosophie begriff, sondern als Erkenntnistheorie der ästhetischen Erfahrung, und dass diese Idee der Ästhetik in der nachfolgenden Zeit nicht realisiert wurde. Außerdem fragte ich, ob es möglich ist, eine solche Realisierung heute vorzunehmen, und ich hob hervor, dass es dafür erforderlich wäre, die Aufmerksamkeit stärker auf die ästhetische Erfahrung zu richten. Ich sagte aber auch, dass die Tradition der Metaphysik der Schönheit Stoff zum Nachdenken bietet, dass aber die Metaphysik der Schönheit lange in Ungnade gefallen war. Daher habe ich auch die Frage aufgeworfen, ob es möglich ist, diese Tradition heute wieder zu aktualisieren und ich nannte die Metaphysik der Erfahrung als mögliche Lösung. In diesem Zusammenhang habe ich die Metaphysik der Erfahrung als moderne Philosophie charakterisiert, die ihren Ausgangspunkt in unserer Erfahrungsphänomenologie nimmt und die zugleich auf unserem Bedürfnis nach Ontologie beharrt. Schließlich habe ich die moderne Form der Erfahrung von Göttlichkeit, das heißt die Erfahrung immanenter Transzendenz, als erfahrungsmetaphysische Kernerfahrung identifiziert. Auf diesem Hintergrund beschrieb ich die Metaphysik der Erfahrung als eine moderne Philosophie, die zwischen dem Transzendenten und dem Immanenten eine Brücke baut. Insoweit ist das erfahrungsmetaphysische Denken aber sowohl religiöser als auch ästhetischer oder eigentlich religionsästhetischer Art. Und da die Metaphysik der Erfahrung zugleich die realisierte Ästhetik ist, ist die Konsequenz meiner Überlegungen, dass Religionsästhetik die Wahrheit der Ästhetik als solcher ist. Dies ist meine Antwort auf eine andere Frage, mit der ich den Vortrag eingeleitet habe: die Frage, wie sich Religionsästhetik zu sonstiger Ästhetik verhält.

[1] Seit dieser Konferenz vor fast 20 Jahren habe ich gelernt, dass die Religionswissenschaft nicht für philosophisches Denken empfänglich ist, sondern auf einer reduktiven Konzeption von Religion und Ästhetik besteht, die die Ablehnung eines philosophisch begründeten Verständnisses von Religionsästhetik zugunsten eines Verständnisses dieser Disziplin als kunstwissenschaftlich fundiertes Studium religiöser Artefakte impliziert. In meinem 2014 veröffentlichten Buch Den skønne tænkning (Das schöne Denken), in dem ich systematisch zwischen Religionsästhetik, ästhetischer Theologie und theologischer Ästhetik unterscheide, plädiere ich nicht für Religionsästhetik, sondern für theologische Ästhetik. Ich beziehe mich unter dem Begriff theologische Ästhetik aber unter anderem auf das, was ich im Konferenzbeitrag als Religionsästhetik bezeichne. Bibliographie

Dorthe Jørgensen. Skønhedens metamorfose: De æstetiske ideers historie (Die Metamorphose der Schönheit: Geschichte der ästhetischen Ideen). Odense: Odense Universitätsverlag, 2001.

Dorthe Jørgensen. Den skønne tænkning: Veje til erfaringsmetafysik. Religionsfilosofisk udmøntet (Das schöne Denken: Wege zur Erfahrungsmetaphysik. Religionsphilosophisch umgesetzt). Aarhus: Aarhus Universitätsverlag, 2014.


314 views0 comments

Recent Posts

See All
bottom of page